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Buch-Reviews
Supercode, Der (Smit, Eric) |
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Auflage:
März 2006
Erscheinungsjahr: 2006
ISBN: 3-431-03632-5
Verlag: Ehrenwirth
Genre: Sachbuch |
Michael Matzer |
1 Review
Die Superposse der Computerindustrie
In seiner Dachstube entwickelt der niederländische
Fernsehreparaturtechniker und Computeramateur Jan Sloot ein
revolutionäres Verfahren, das die Elektronikindustrie völlig auf den
Kopf stellen würde. Einen ganzen Videofilm im Speicher von 1 Kilobyte
unterbringen – unmöglich, oder?
Fachleute sind überzeugt, dass Sloots Erfindung Milliarden wert ist.
Doch zwei Tage, bevor das große Geschäft abgeschlossen werden soll,
fällt der Erfinder auf seiner Terrasse tot um: Herzinfarkt. Fieberhaft
sucht man nach seinem Supercode, doch das Bankschließfach mit den
Unterlagen – ist leer! Ein Riesenschwindel?
Der Autor
Der Niederländer Eric Smit, geboren 1967, bereiste einige Jahre lang als
professioneller Squash-Spieler die Welt. Danach machte er seinen
Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und begann ein neues Leben als
Journalist, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur von "Quote",
einem Trendmagazin für Geschäftsleute. Vier Jahre hat er für dieses Buch
recherchiert. (Verlagsinfo)
Inhalte
Die Story mutet an wie ein Spannungsroman und sollte vielleicht wie ein
solcher erzählt werden. Wie konnte ein völlig unbekannter holländischer
Fernseh- und Computerspezialist Silicon Valley in Aufregung versetzen
und einen Top-Manager vom Weltkonzern Philips abwerben?
Jan Sloot wuchs auf dem platten Land in Groningen auf. Durch
verschiedene Umstände wurde er ein Eigenbrötler, der am liebsten mit
Elektronik hantierte und schon mit seinem selbstgebauten Radiosender die
Nachbarn belästigte. Die Polizei nahm ihm das Gerät sofort wieder weg.
Fortan passte er auf, dass ihm niemand jemals wieder etwas, was er
geschaffen hatte, wegnahm. Das sollte verhängnisvolle Folgen haben.
Da er als Fernsehraparateur viel zu tun hatte, verfiel er auf die Idee,
eine Datenbank – eine Knowledge Base – mit allen Lösungen zur Reparatur
von Fernsehgeräten zu schreiben. Diese könnte er dann an Fernsehhändler
usw. vertreiben, ja, sogar ein Netzwerk aufbauen, um die neuesten
Lösungen zu verbreiten. RepaBase, wie das Produkt heißen sollte, stieß
jedoch auf diverse Probleme und wurde nie fertig. Aber etwas Gutes
entstand daraus: das Sloot Digital Coding System (SDCS), mit dem die
Datenübertragung möglichst wirtschaftlich erfolgen sollte.
Das SDCS wird in einem Anhang ziemlich genau beschrieben. Es handelt
sich nicht, wie der Name schon sagt, um eines der üblichen
Datenkomprimierungsverfahren, sondern um eine Verschlüsselungsmethode
für digitale Inhalte: Video, Audio, Text. Das klingt paradox, denn wie
soll eine Kodierung Inhalte kleiner machen? Um es kurz zu sagen: Es geht.
Wer Details wissen will, sollte das Buch lesen.
Ausschlaggebend ist jedoch folgendes Leistungsmerkmal: Eines oder
mehrere Videos lassen sich auf einer Chipkarte unterbringen. Eine
Festplatte ist nicht im Spiel – das ist der entscheidende Unterschied.
Die Größenunterschiede zu herkömmlichen Verfahren sind astronomisch.
Sloot achtete penibel darauf, dass absolut niemand dahinter kam, wie
genau die Sache vonstatten ging. Er beteuerte aber seinem Vertrauten und
Investor Mierop, dass die Technik funktioniere und er sie in einem
Papier beschrieben habe, das im Safe eines Notars oder einer Bank liege.
Die Investoren
Statt nun aber misstrauisch zu werden oder Sloot für verrückt zu
erklären, glauben verschiedene Investoren, der Sache, die Sloot ihnen
anbot, trauen zu können. Nicht wenige Selfmade-Millionäre sind darunter,
denn von 1997 bis 1999, als Sloot starb, ging es auch der
niederländischen Wirtschaft nicht schlecht. Die New Economy war in aller
Munde. Ein paar Hunderttausend oder ein Milliönchen ließ sich da schon
mal reinstecken, in die Wunderkiste des Jan Sloot. Und wegen seiner
Gläubiger ist Sloot seinerseits um jede Million froh. Schon macht sich
seine Frau Annie Sorgen um sein Herz, um das es offenbar nicht allzu gut
steht.
Der Erste, der mit dem SDCS das große Ding drehen will, ist ein
zwielichtiger Abenteurer namens Leon Sterk. Wenn Mierop an diesen
Weltverbesserer denkt, wird ihm schlecht und er schüttelt bloß den Kopf.
Doch Sterk versteht es, mit ausgefallenem und großspurigem Marketing
weitere Investoren anzulocken, um Sloots Erfindung zur Industriereife
entwickeln zu können. Aber als ihm die Schulden über den Kopf wachsen
und das SDCS noch nicht fertig ist, taucht Sterk unter.
Der neue CEO
Über Umwege lassen die wichtigsten Investoren ihre Beziehungen spielen.
Zu einer die Beziehungen gehört Roel Pieper, um die vierzig Jahre alt
und "Kronprinz" beim niederländischen Weltkonzern Philips Electronics.
Pieper ist in Kreisen der Informationstechnologie kein unbeschriebenes
Blatt, war er doch mal der Vorstandsvorsitzende (CEO) von Tandem
Computers, bevor er das Unternehmen an Compaq verkaufte. Bill Gates und
Charles Wang (von Computer Associates) zählen zu seinen guten Bekannten.
Pieper ist der eigentliche Held dieser Geschichte.
Aber seine Tage bei Philips sind gezählt, agiert er doch offenbar etwas
zu selbstherrlich für die Unterfürsten im Königreiche Philips, und dass
er den König vom Thron stoßen will, ist diesem sicherlich nicht
willkommen. Nach nur einem Jahr verlässt Pieper den Konzern, um sein
eigenes Unternehmen zu steuern: Dipro. Dipro entwickelt Sloots Erfindung.
Sobald er sich von den phänomenalen Fähigkeiten des SDCS hat überzeugen
lassen, steigt Pieper mit großen Plänen ein: aber nur als CEO. Die
Anteilseigner sind einverstanden.
Widerstand und Falltüren
Er benennt Dipro in Fifth Force um und nimmt sich vor, die Niederlande –
so viel Patriot steckt schon in ihm – auf die Landkarte der IT-Industrie
zu setzen. So groß wie Cisco oder Sun Microsystems soll Fifth Force
werden. 30 Mio. Gulden gibt ihm die ABN Amro Bank als Starthilfe. Nur
zwei stehen ihm stets kritisch gegenüber: der stets von seiner Paranoia
beherrschte Jan Sloot und sein bodenständiger Vertrauter Mierop. Pieper
gedenkt beide auszubooten und Alleinherrscher des Unternehmens zu
werden.
Es gibt nur einen Haken: Für das SDCS gibt es bislang weder ein
angemeldetes Patent noch den Quellcode. Sollte Sloot den Löffel abgeben,
wird es bald lange Gesichter geben – auch in Silicon Valley, wo man auf
Pieper große Stücke hält. Am 11. Juli 1999 ist der Tag X gekommen …
Mein Eindruck
Dass er sich die Story und alle ihre zahlreichen Verästelungen nicht aus
den Fingern gesogen, sondern vielmehr aus dem "prallen Leben" geschöpft
hat, belegt der Autor mit zahlreichen Zitaten. Vielfach sind die Zitate
grau unterlegt und entsprechend hervorgehoben. Alle Textstellen, sogar
die Motti, sind in den Endnoten des Anhangs belegt.
Sollte es also zu einer Verleumdungsklage kommen, so legt hier der Autor
schon mal seine Karten auf den Tisch. Eine Zeittafel erleichtert dem
Leser die zeitliche Orientierung. Die Beschreibung des SDCS habe ich
bereits erwähnt. Sie ist leicht zu verstehen, zumindest für Leute, die
schon mal einen Computer angefasst haben.
Comédie humaine
Dies ist keine der üblichen Entdecker- und Erfindergeschichten, die als
Abenteuer inszeniert werden und in Glanz und Gloria enden oder mit einer
Tragödie. Die Art und Weise, wie sie erzählt wird, hat mehr mit der
gewöhnlichen comédie humaine zu tun. Es ist eine Farce, eine Posse,
jedoch ohne dass sich die Mitspieler dessen bewusst sind, dass sie eine
derartige Rolle spielen. Vielmehr scheint es den meisten ziemlich ernst
mit dem zu sein, was sie da tun. Aber sie tun es nach Regeln, die nicht
sie aufgestellt haben, sondern die Industrie, in der sie agieren.
Die Regeln der Posse
Allein schon der Auftritt des "Kronprinzen" Roel Pieper ist ein
Paradebeispiel für das Geschäftsgebaren, dessen sich die Techno-Könige
befleißigen – oder denken, dies tun zu müssen. Die üblichen
Präsentationen und Demos sind ja Usus, aber dass Pieper auch mit
Risikokapitalgebern ebenso umspringt wie mit seinen Anteilseignern, mit
Bankern ebenso wie mit Wirtschaftsministern, geht schon etwas weiter. Er
macht jedem klar, dass er weiß, wovon er redet. Dabei ist dies gar nicht
der Fall. Es ist das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, nur dass
diesmal keiner die Wahrheit sagt. Und Jan Sloot schweigt zu all den
Possen. Er fürchtet lediglich eines: dass ihm die großen Konzerne und
deren Forscher seine Entwicklung wegnehmen könnten.
Der hohle Kern
So wie in Fifth Force der Kern hohl war, so traf dies auch auf die New
Economy zu. Als die Blase nach dem Ende der Goldgräberzeit platzte, war
der Katzenjammer groß. Sloot erlebte dies nicht mehr mit, aber der Autor
weist an seiner Stelle kritisch darauf hin, welche irrealen Marktwerte
und Börsennotierungen damals der Fall waren. Mit Fifth Force wollte Roel
Pieper sich ein ordentliches Stück abschneiden – und fiel auf die Nase,
weil er das Pferd am Schwanz aufzäumte. Er hätte als Erstes das Patent
sichern sollen, bevor er die Investoren köderte. Doch "Time-to-market"
drängte ihn, als Erster durchs Ziel zu gehen, wenn der Run auf die hohen
Bandbreitenkapazitäten losging. Mit SDCS wollte er den Trumpf ausspielen,
der seinem Pokerblatt zum Sieg verhelfen würde.
Sicherheitslücken wie Scheunentore
Daraus wurde nichts, und hinterher ist das Rätselraten groß, wie das
passieren konnte. Warum wurde der Quellcode für das SDCS nie gefunden?
Mierop hat so seine Theorien, und eine davon stützt sich auf seine
Beobachtungen. Als er merkte, dass Pieper von Datensicherheit nicht die
Bohne verstand, stellte er einen Sicherheitsdienst an, um die Familie
Sloot zu überwachen. Tatsächlich wurde beobachtet, wie die Tochter, die
nicht gut auf ihren Vater zu sprechen gewesen war, mehrere Kartons
wegschaffte und sie ihrem Bruder übergab.
Was machten sie damit? War dies der Quellcode, von dem ihm Sloot erzählt
hatte? Keiner weiß es. Ja, Pieper verbietet Mierop sogar mehrmals, der
Familien nachzuschnüffeln. Als er schließlich einen anderen
Sicherheitsdienst auf die Sache ansetzt, ist schon alles zwecklos. Daten
weg, Patent weg, Quellcode futsch.
Bis heute ist die Firma Fifth Force keineswegs liquidiert, sondern
lediglich in "Winterschlaf versetzt". Denn es gibt noch einen Banksafe,
in dem einer von Sloots Teilhabern Dokumente hütet. Ist dies der heilige
Gral des SDCS? Wie bei den Kreuzfahrern heißt es schließlich: Die
Hoffnung stirbt zuletzt.
Unterm Strich
Aus niederländischer Perspektive gesehen, ist dies die Geschichte eines
verpassten Eintritts in die oberste Liga der New Economy. Doch ebenso
wie diese Superblase des Silicon Valley musste auch die
Erfolgsgeschichte von Fifth Force an ihren inneren Widersprüchen
scheitern. Statt es nach alter Väter Sitte Schritt für Schritt anzugehen,
machten Glücksritter und arrogante Global Player erst Schritt B nach
Schritt A. Das Patent lag noch nicht vor, als es schon Kredite hagelte
und Investoren mit Millionen Dollars auf der Matte standen.
Jeder wollte die Erfindung, doch den Menschen Sloot, den wollte keiner:
Er war nicht kompatibel. Und als er merkte, dass der Tag der Offenbarung
kommen und es entweder Millionen regnen oder ihm die Handschellen
angelegt würden, da hielt es sein Herz nicht mehr aus. Oder lief es
anders? War Sloot kein Betrüger, sondern Opfer der Konzerne, die um ihre
Pfründe bangten und ihn daher beseitigen ließen? Man durfte ihn nicht
einmal obduzieren.
Die Story, die der Autor penibel zusammengetragen hat, liest sich für
einen Insider wie mich spannend, aber ich merkte auch, dass das
Geschäftsgebaren und die Persönlichkeiten Kenntnisse voraussetzen, um
sie als charakteristisch für die IT-Branchen erkennen und verstehen zu
können. Ein Glossar fehlt; man muss wohl voraussetzen, dass der Leser
den Jargon der Branche halbwegs kennt.
Sehr positiv finde ich, dass der Autor sich nie über die Figuren, die er
beschreibt, lustig macht, nicht einmal über den zwielichtigen Abenteurer
Leon Sterk. Das tun die Zeugen in ihren Zitaten für ihn. Diese neutrale
Haltung bedeutet aber auch, dass der Leser häufig selbst werten muss,
was denn nun normal und was völlig hirnrissig ist. Vielleicht ist es
aber schon so weit gekommen, dass wir das eine vom anderen nicht mehr
unterscheiden können, weil die Welt der Computer mittlerweile zur Luft
gehört, die wir atmen. Der Wahnsinn hat Methode, und wir merken es kaum
noch.
Originaltitel: De Broncode, 2004
352 Seiten
Aus dem Niederländischen von Andrea Kalbe und Jan F. Wielpütz
Michael Matzer [08.04.2006] |